Voll im
Wind
Segeln vereint Teamgeist und Athletik mit Gespür für Wind und Wetter. Die Bundesligamannschaft aus Salzgitter fährt dafür an den nordrhein-westfälischen Möhnesee. Ein Trainingsbesuch.
Ein Sonntagmorgen am Möhnesee. Ein paar Dutzend Wildgänse landen am Ufer. Der Himmel ist grau, es hat gerade aufgehört zu regnen. Das Westfälische Meer, wie die Menschen hier die Talsperre zwischen Soester Börde und Sauerland nennen, liegt ruhig. Mitten auf dem See sind acht junge Sportler:innen mit ihrem Trainer im Einsatz
Die Segler:innen pflügen mit den beiden Booten der J/70-Klasse durch das Wasser. Eine Segelspitze ist rot gefärbt, die des Nachbarbootes blau. Noch zehn Meter, noch fünf Meter, jetzt erreichen sie die beiden Bojen, die die Startlinie markieren. Team rot steuert knapp neben der rechten Boje ins Tor, Team blau muss ausweichen und sich hinten einreihen. „Clever gemacht“, ruft Trainer Joachim Hellmich durch den Nieselregen und fährt mit seinem Elektrokatamaran hinterher, der Boje entgegen, die Wendepunkt und Halbzeit dieses Übungsrennens markiert.
Mit fünf Jahren beginnt Hellmichs Segelabenteuer
Es ist ein Trainingswochenende am Möhnesee. Der Bootstyp eignet sich auch bei wenig Wind so wie heute, nur wenige Meter pro Sekunde zeigt das Messgerät. Es ist die Bootsklasse, die in der Deutschen Segel-Bundesliga genutzt wird.
Joachim Hellmich, den alle Jocky nennen, ist nicht nur rund um den Möhnesee ein Synonym fürs Segeln. Kein Wunder: Hellmich saß mit fünf Jahren das erste Mal am Steuer eines Segelboots. Sein Vater hatte einen Wohnwagen und später ein bewohnbares Segelboot am Möhnesee, die Talsperre war sein zweites Zuhause. Mit dem Opti genannten Einsteigerboot fuhr Joachim Hellmich schon als Siebenjähriger Regatten. Es folgten viele Titel, zuletzt eine von drei Weltmeistertrophäen im Jahr 2007.
Den Blick für Talente hatte Hellmich schon früh. Und er will jetzt etwas zurückgeben. „Ich hatte viele Förderer – nun will ich selbst mein Wissen weitergeben“, sagt Hellmich und rückt die schwarz umrandete Brille zurecht. Als Bundestrainer bereitete er die Starbootsegler auf die Ausscheidung zu den olympischen Segelwettbewerben von London 2012 vor. Hellmich ist stolz auf diese Zeit: „Wir hatten damals fünf Mannschaften unter den Top 12 der Welt.“
Mit fünfzig wird die Leidenschaft zum Beruf
Seit 2017 ist er hauptberuflicher Geschäftsführer des Heinz-Nixdorf-Vereins zur Förderung des Segelsports und dessen Academy am Möhnesee. Zuvor war er 25 Jahre Vorsitzender des Vereins. Es ist ein Job mit vielen Aufgaben, die sich nicht auf das Trainieren beschränken. Nach dem Training zieht er erst mit dem Trecker, dann mit dem Transporter die Boote aus dem Wasser. Seine Frau kocht für die Teams, sie beide organisieren die Übernachtungen. Und wenn bei den Profis irgendwo Segel ausrangiert werden, die noch brauchbar sind, dann organisiert er auch die. Der Namensgeber, der Unternehmer Heinz Nixdorf, war für Hellmich großes Vorbild und Förderer. Mit dessen Sohn Martin gründete er den Verein.
Hellmich fragt sich oft, warum es so lange gedauert hat, bis er seine Leidenschaft vollends zum Beruf gemacht hat. Sicher, den elterlichen Betrieb in Werl zu übernehmen, das hat ihn auch stolz gemacht. Hier konnte der Diplom-Ingenieur seine technischen Talente einbringen, ein Spezialgebiet des Unternehmens waren besondere Fahrzeugaufbauten, die auf Messen oder als mobile Konzertbühnen eingesetzt wurden. Aber ein mittelständisches Unternehmen führen heißt auch: wirtschaftlicher Druck, Terminstress und manchmal sogar mangelnder Respekt. Das Segeln ist anders, sagt Hellmich auf dem See. „Was mir das hier gibt? Innere Wärme.“
Sekunden zählen, bis die Böe kommt
Dabei ist es an diesem langsam aufklarenden Sonntag im November alles andere als warm. Mit dem leise über den See surrenden Katamaran mit Elektromotor fährt Hellmich in Richtung der zwei Segelboote. Im Hintergrund die historische Staumauer des Sees, am Ufer rasten Wildgänse. Die Luft ist klar. Hellmich zeigt auf eine Stelle im See, vielleicht 200 Meter entfernt. „Da kommt eine Böe“, sagt er. Für den Laien ist das nicht zu erkennen. Kurz darauf kann man sehen, wie auf einem Segelboot mit den Elementen gearbeitet wird. Daniel Kipp vom roten Team, mit 24 Jahren der älteste unter den Segler:innen, ruft: „Noch zehn Sekunden, dann kommt die Böe.“ Und dann zählt er runter, sein Team trimmt das Boot, reagiert auf die Veränderungen, nimmt den Wind mit und beschleunigt sichtbar.
Training dank finanzieller Unterstützung
Währenddessen erklärt Trainer Hellmich dem Besucher der Lotto-Sport-Stiftung das Einmaleins des Segelsports. Und doch entgeht ihm dabei kaum etwas rund um die beiden Boote. Er ruft, dass der Gennaker, das Vorsegel, nicht ideal ausgefahren ist. Dem anderen Boot ruft er zu, dass das Heck des Bootes zu tief im Wasser hängt und die Crewposition angepasst werden muss.
Und die Truppe gibt einiges für ihren Sport. Das Team aus Salzgitter hat am heimischen Salzgittersee kein eigenes Boot der J/70-Klasse, ein klarer Wettbewerbsnachteil. Sie fahren stattdessen so oft wie möglich drei Stunden nach Südwesten und übernachten in der Ferienwohnung der Academy, um am Wochenende viel Zeit auf dem Möhnesee verbringen zu können. Das alles ist nur möglich mit Liebe zum Segeln – und der Unterstützung durch die Lotto-Sport-Stiftung.
Es hat sich gelohnt: Der Segelclub Salzgitter war drei Saisons in der Deutschen Junioren Segel-Liga am Start und stieg dann auf in die zweigliedrige Bundesliga, in der der deutsche Meister der Vereine ermittelt wird. An einem Bundesligaspieltag, der Freitag beginnt und Sonntag endet, gibt es je nach Windverteilung bis zu 48 maximal 20 Minuten dauernde Rennen mit jeweils sechs Booten.
„Segeln vereint so viel“
Die zwei orangefarbenen Bojen markieren den Start. Die Boote mit den Segler:innen aus Salzgitter belauern sich jetzt vor diesen Bojen. Noch wenige Sekunden bis zum Start. Das Boot mit der roten Segelspitze hat den besseren Kurs gewählt, Team blau muss einen Umweg segeln. Die Viererteams sind voll im Einsatz, rufen sich zu, wie der Wind steht, was das andere Boot macht, wann die Wende ansteht. Am Ende wird übrigens das blaue Team das Übungsrennen für sich entscheiden, es hat den Rückstand am Start durch ein starkes Manöver an der Wende
wettgemacht.
Hellmich lächelt: „Segeln vereint so viel“, sagt er. Athletik, technisches Wissen, der Blick auf die Natur, Teamarbeit, Psychologie – und all das draußen bei im wahrsten Sinne Wind und Wetter. Der Ingenieur Hellmich ist auch beim Segeln gefragt. Denn an den Booten ist immer mal etwas zu reparieren. Den Anhänger, mit dem er sein Elektroboot ins Winterquartier fahren kann, den hat er – natürlich – selbst gebaut.