Integrieren

Reportage Alphabetisierung

Das Projekt

Lilly

„Wenn ein Mensch beginnt zu lesen“, sagt Lilly Hugenberg, „entdeckt er neue Welten.“ Als in der Nähe ihres Wohnhauses in Osnabrück junge Geflüchtete einziehen, weiß die pensionierte Lehrerin, wie sie helfen kann.

Die erste Aufgabe heute besteht darin, das Team der Lotto-Sport-Stiftung kennenzulernen. Filmerin und Redakteurin stehen vor der Klasse.

„Wie heißt du?“ „Willkommen!“ Der 18-jährige Omar aus Gambia sieht den Klassenraum im ersten Stock des riesigen Berufsschulzentrums Westerberg so sehr als seinen an, dass er Gäste herzlich begrüßen kann. Omars neun Klassenkamerad:innen, alle geflüchtete 16- bis 18-Jährige, befragen den Besuch noch weiter, denn das entspricht der Einheit, die sie derzeit im Deutschunterricht lernen. „Bist du verheiratet?“ „Hast du Kinder?“ „Wie alt bist du?“ Diese Fragen sind wesentlich für alle Behördengänge, wird Lilly Hugenberg später erklären.

Ein Leben fürs Lesen

Lilly Hugenberg lebt für die Lehre. „Ich kann etwas, das ihr braucht!“, befand die mehrfache Mutter und Großmutter, als im Jahr 2015 eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete ganz in ihrer Nähe eingerichtet wurde. „Meine Generation weiß, was Krieg bedeuten kann. Das haben wir über unsere Eltern erfahren“, sagt sie voller Mitgefühl.

Die studierte Anglistin und erfahrene Grundschullehrerin mit Montessori-Diplom unterrichtet heute ehrenamtlich junge Migrant:innen. Ihre Methode ist die aufgeklärte Einsprachigkeit. Eine andere kann es auch nicht sein, denn ihre Schüler:innen haben ganz unterschiedliche Muttersprachen. Hugenberg lehrt also ausschließlich auf Deutsch, vor allem aber gestikulierend mit Händen und Füßen, Erstlesen und Erstschreiben. „Das ist der Sinn meines Lebens. Dafür bin ich da“, sagt sie. Buchstaben, Wörter, jeder neue Laut mache stolz. Sie verweist immer wieder auf das „unglaubliche Gefühl, sich Schritt für Schritt dem Lesen und Schreiben zu nähern“, das sie selbst als sprachgewandte Deutschlehrerin kaum in Worte fassen kann.

Neuer Buchstabe: Svenja Stephan führt heute das W ein

Solidarisches Osnabrück

Mit der Flüchtlingswelle 2015 hatten sich über hundert Osnabrücker:innen „einfach so, ohne Struktur, aber mit offenem Herzen“ zusammengeschlossen, um zu helfen. Drei Jahre später, im Jahr 2018, gründet Lilly Hugenberg gemeinsam mit ihrem Mann Josef Hugenberg, der pensionierten Studienrätin Mechthild Dierks, dem Betriebswirt Rainer Hafke und weiteren Ehrenamtlichen den Verein Solidarisches Osnabrück und hebt damit die Unterstützung auf eine neue offizielle Ebene.

Der eingetragene Verein versteht Integration als respektvolles, gleichberechtigtes Zusammenleben aller Menschen mit individuellen und kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Sein primäres Ziel: kostenlose Deutschkurse für Geflüchtete. Seine feste Überzeugung: Sprache ist der Schlüssel zu einer friedlichen Gesellschaft. Das ambitionierte Vorhaben braucht starke Partner:innen und finanzielle Mittel. 2021 fördert die Niedersächsische Lotto-Sport-Stiftung die Alphabetisierungskurse für geflüchtete Jugendliche im zweiten Jahr.

Lilly Hugenberg in ihrem Element: Gestik und Mimik spielen für die Alphabetisierung eine entscheidende Rolle

Forschung und Lehre

Inhaltlich prägend ist auch die Kooperation mit Christina Noack, Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Dekanin des Fachbereiches Germanistik an der Universität Osnabrück. Sie gewinnt Student:innen für die Mitarbeit im Projekt. Auch Masterarbeiten gehen daraus hervor. So professionalisiert Hugenberg den Lehrplan immer weiter.

Unterrichtet wird meistens im Team. Heute komplettiert Studentin Svenja Stephan das eingespielte Lehrerinnenduo. Stephan ist zertifiziert für Deutsch als Fremdsprache (DaF), sie arbeitet seit einem Jahr im Projekt Lilly, wie alle den Alphabetisierungskurs nennen. Stephan schreibt gerade an ihrer Masterarbeit für das Lehramt Deutsch, Mathe, Sachunterricht und bezeichnet sich selbst als „Grundschulfrau mit Leib und Seele“. Manchmal unterrichtet sie die Migrant:innen auch allein. „Zu zweit macht es aber mehr Spaß. Und man kann differenzierter arbeiten“, sagt sie. „Hier zu lehren bedeutet auch, sich auszuprobieren. Man kriegt so viel zurück. Ich mag die Verantwortung; dadurch bin ich wahnsinnig motiviert.“

Omar will lernen: Weil zwei Lehrer:innen da sind, kann sich Svenja Stephan ihren Schüler:innen auch individuell widmen

Gewinn durch Gebärden

Die Schüler:innen sprechen in ihren Familien zum Beispiel Dari oder Farsi, Sorani, Kurmandschi, Mandinka, Wolof oder Rumänisch, Bambara, Arabisch, Mazedonisch, Serbisch oder Albanisch. Je nach Fluchtroute beherrschen einige rudimentär Italienisch, Griechisch, Türkisch, Englisch oder Französisch. Wenn sie sich untereinander verständigen wollen, dann hilft nur eines: die deutsche Sprache.

Der Weg zu diesem verbindenden Instrument liegt vor ihnen. Im Unterricht via Schauspielkunst mit viel Mimik und Gestik geht es auch um Zwischenmenschliches. „Es ist oft lustig. Die Gruppe ist wirklich heterogen, aber alle helfen sich untereinander“, erzählt Stephan. „Das Unterrichten mit Lautgebärden stammt aus der Grundschulpädagogik“, erklärt Hugenberg ihren erfolgreichen Ansatz. Gerade Jugendliche arabischer Herkunft hörten sonst die deutschen Vokale nicht. Denn das Arabische unterscheide zum Beispiel e und i sowie o und u nicht, das seien einfach keine bedeutungstragenden Phoneme. Vokale werden in der arabischen Schrift grundsätzlich nicht geschrieben.

Hugenberg führt die Artikulation immer wieder auch ohne Maske vor, sie nutzt ihren Mund, um die korrekte Lautbildung zu zeigen. „Auch wenn ich längst geboostert bin und wir uns alle täglich testen, gibt es wegen Corona zurzeit viel Frontalunterricht“, bedauert die Pädagogin. Sie lehrt Phonetik zum genauen Formen der Laute und Wörter direkt an die Tafel stehend mit Abstand zu den Jugendlichen, um die Infektionsgefahr zu minimieren.

Bei allen Corona geschuldeten Einschränkungen: Wer die Schüler:innen heute beim Unterricht beobachtet, der sieht ein empathisches Miteinander. Der erlebt eine konzentrierte Stille und einen unbedingten Lernwillen, von dem Lehrer:innen an Elitegymnasien vermutlich nur träumen. Denn die Schüler:innen wissen, welche Chance Projekt Lilly ihnen eröffnet. Sie sind dankbar, lernen zu dürfen.

Die Schwächsten der Schwachen

Die Lerngemeinschaft besteht aus primären und funktionalen Analphabeten. Primäre Analphabeten haben nie lesen und schreiben gelernt, nie eine Schule besuchen können. Funktionale Analphabeten kennen eine andere Ausgangsschrift, zum Beispiel kyrillische Schriftzeichen. Die meisten sind traumatisierte junge Menschen mit brutalsten Fluchterfahrungen. „Wir möchten, dass die Schwächsten der Schwachen zu uns kommen, damit sie das Lesen und Schreiben lernen und dadurch an unserer Gesellschaft teilhaben können“, so Hugenberg. In ihrer Klasse sind derzeit auch zwei minderjährige Mütter, die je schon zwei Kinder haben. Sorgen wie diese begleiten das Unterrichtsgeschehen. Aber die Lehrer:innen wissen: „Wir wecken Lernbereitschaft. Und dann schaffen wir das.“