Integrieren

SPRACHCAFÉ

Lernen

fürs Leben

Im Sprachcafé Oase in Verden lernen Menschen aus Afghanistan, dem Iran oder der Ukraine abseits normierter Sprachkurse Deutsch – und eine Menge über das Leben in der neuen Heimat. Zu Besuch in einer Einrichtung, die dank viel ehrenamtlichen Engagements und der Lotto-Sport-Stiftung seit 2015 besteht und im besten Fall Starthilfe für eine bessere Zukunft gibt.

Ein Mittwochmorgen im November. Iris Guth sitzt heute mit vier jungen Frauen und einem jungen Mann an einem sechseckigen Tisch aus Holz, dahinter spielen Kinder mit Holzklötzen und Luftballons. Der Raum ist groß und hat einen himmelblauen Teppich. „Neue Wörter“, sagt Guth. Sie hält einen karierten Schreibblock in die Runde, hat dort in Blau das Wort „reichen“ aufgeschrieben. „Leila, kennst du das?“ Und dann entspinnt sich in der Gruppe ein Gespräch, in dem die Teilnehmenden ganz organisch die deutsche Sprache lernen.

Guth streut immer wieder Beispiele ein, wann und wo etwas „reicht“ oder eben nicht. Und fast spielerisch landet man beim nächsten Wort, das Gespräch wird in den zwei Stunden noch Nasen-OPs berühren, Wörter wie „anfügen“ für alle verständlich machen. „Unterricht“, das Wort findet Iris Guth gar nicht so passend. „Es ist mehr ein gegenseitiges Helfen und Weiterführen“, sagt sie.

Keine festen Kurse, die Kinder spielen in der Ecke

Iris Guth leitet das Sprachcafé Oase in Verden. Es ist eine im Wortsinn einmalige Einrichtung in der Kleinstadt an der Aller. Hier gibt es Lerneinheiten für Anfänger:innen und Fortgeschrittene, die etwa einen Deutschkurs mit der Stufe B1 oder A2 schon absolviert haben. Und es gibt eine feste Gruppe von etwa einem Dutzend Menschen aus der Ukraine, die sich im Obergeschoss trifft. Feste Unterrichtseinheiten gibt es nicht. Das Sprachcafé ist von 9 bis 11.30 Uhr geöffnet, in dieser Zeit sind die Tische offen, um gemeinsam zu lernen. Wer später kommt, setzt sich dazu, steigt ein, lernt mit. Einige bringen ihre Kinder mit.

Die Räume stellt die christliche Landeskirchliche Gemeinschaft, die Gemeinderäume sind aber offen für alle. Viele der Besucher:innen sind Muslim:innen; auch orthodoxe Christ:innen sind dabei.

Zahra Mohamoud Egeh berichtet von Ihren Erfahrungen im Sprachcafé:

Im Jahr 2015, als viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, fanden einige von ihnen in der Sporthalle direkt gegenüber dem Gemeindehaus ein vorübergehendes Zuhause. „Wir müssen was tun“, dachte der damalige Pastor und öffnete den Ort. Kaffee und Begegnung sollte es geben, aber bald merkte man: Was die Menschen brauchen, ist Hilfe beim Ankommen. Das heißt vor allem: Hilfe bei der Sprache.

„Ich versuche, auf die Worte einzugehen, die die Menschen hier beschäftigen“

Iris Guth leitet das Sprachcafé und ist dort mit einer halben Stelle angestellt. Die Förderung durch die Lotto-Sport-Stiftung hilft, das Angebot auch nach acht Jahren aufrechtzuerhalten. Mit Guth kümmern sich neun Ehrenamtliche um die Besucher:innen. Guth ist eigentlich BWLerin, hat lange bei der Sparkasse im Auslandsgeschäft gearbeitet und ein Talent für Sprache. Sie beherrscht Französisch, Englisch, Russisch und ein bisschen Schwedisch. Iris Guth spricht klar, das offene Lächeln gehört zu ihr. Ganz selbstverständlich bindet sie alle ins Gespräch ein und animiert zum Mitmachen, ohne dass es wie ein Gang an die Tafel wirkt. „Ich versuche, auf die Worte einzugehen, die die Menschen hier beschäftigen“, sagt Guth. Und das sind dann eben oft auch sperrige deutsche Amtsbegriffe. In der Anfangsphase des Cafés hat sie die Bücher gelesen, die man beim Lernen für Abschlüssen wie A1 oder B1 nutzt – um zu wissen, welche Inhalte eigentlich wichtig sind.

Selbstverständlich dabei: In den offenen Gruppen sind auch die Kleinsten immer herzlich willkommen.

Neun Ehrenamtliche kümmern sich neben Iris Guth um die Besucher:innen: Ob Analphabet:in, Sprachlevel B1 oder A2, jede:r darf mitmachen.

Am Nebentisch in dem großen Raum im Erdgeschoss lernen die Menschen mit wenig Deutschkenntnissen. Einen Raum weiter sitzt eine kleine Gruppe von Analphabetinnen, ein paar Frauen, die die Chance nutzen wollen, in Deutschland nicht nur eine neue Sprache, sondern auch lesen und schreiben zu lernen. Geht man durch diesen Raum, an einem schwarzen Klavier vorbei und einige Stufen im Treppenhaus nach oben, landet man bei den Ukrainer:innen. So sagt man hier der Einfachheit halber zur Gruppe der Geflüchteten, die nach dem russischen Angriffskrieg auf ihr Land in Verden eine sichere Heimat gefunden haben. Eine ausgebildete Deutschlehrerin unterrichtet hier.

In der Gruppe geht es längst nicht nur ums Lernen. Sie alle eint die Geschichte der Vertreibung, das Bangen um die Angehörigen dort und das manchmal schwierige Ankommen hier. Eine von ihnen ist Olena Leshchenko. Sie hat ihren Lebensmut nicht verloren, macht Scherze, wird dann aber auch ganz ernst, wenn sie sagt: „Wir sind sehr dankbar für alles hier.“

„Diese Gemeinschaft macht mir eine ungemeine Freude.“

Eine Rede auf Deutsch halten

Damit meint sie auch Ehrenamtliche wie Michael Becker. Der ist seit einigen Jahren im gesundheitsbedingten Vorruhestand, fährt montags für die Tafel und kümmert sich mit um die Gruppe der Menschen aus der Ukraine. Das Kümmern geht über den Unterricht hinaus, er organisiert Führungen durch die Stadtbibliothek oder besorgt einen Schwung Karten für das Fußballspiel Deutschland gegen die Ukraine in Bremen. An diesem Mittwoch spricht er ein paar Infos über die Verdener Stadtwaldfarm in sein Handy, das Programm übersetzt ins Ukrainische. „Diese Gemeinschaft macht mir eine ungemeine Freude“, sagt er. Und er erzählt von einer besonderen Ausstellung, die gerade in Verden gezeigt wird. Bilder eines jungen Fotografen, der sein Land verteidigen wollte und dabei getötet wurde. Fotos vom Alltag als Soldat. Eine der ukrainischen Frauen aus dem Sprachcafé hat für die Eröffnung der Ausstellung ihre Geschichte erzählt, auf Deutsch, unter Tränen. Sie lebte in Butscha, dem Ort, der im Krieg zum Synonym für Kriegsverbrechen geworden ist.

Hat ein Talent für Sprache und Sprachvermittlung: Iris Guth leitet das Sprachcafé.

In der Gruppe geht es besser: Alle hier eint der Antrieb, in dieser Gesellschaft anzukommen.

Im Idealfall: lernen und weiterziehen

Leiterin Iris Guth ist seit der Eröffnung des Sprachcafés Oase im Jahr 2015 dabei. Irgendwann ist es immer Zeit, Abschied von den Lernenden zu nehmen. Oft ist es ein schöner Anlass. So wie bei Mohammad Mawed. Der junge Mann, der im Jahr 2000 in Syrien geboren wurde, kam mit 18 Jahren nach Deutschland. Im Sprachcafé lernte er für den Realschulabschluss. Den schaffte er. Ebenso das Fachabitur, für das er gerade noch ein Praktikum in einem Architekturbüro in Verden absolviert.

Solch eine Geschichte möchte auch Nematullah Quraishi gern schreiben. Der junge Mann ist vor eineinhalb Jahren mit seiner Frau und ihren beiden kleinen Kindern aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Zu viert leben sie in einem Zimmer, Quraishi hofft, bald eine andere Wohnung zu finden. Auch, damit er besser lernen kann für den nächsten Sprachkurs, auf den er wartet.

Das Sprachcafé unterstützt vielseitig: lernen für zertifizierte Sprachabschlüsse, aber auch, um Amtsbriefe zu verstehen und im Alltag in Deutschland zurechtzukommen.

Leben auf engstem Raum: Nematullah Quraishi mit seiner Tochter Fatima

Alle hier eint der Antrieb, anzukommen in einer Gesellschaft, in der zwar viele hilfsbereit sind, aber einige auch gegenüber geflüchteten Menschen Vorurteile haben. Quraishis Sitznachbarin Farzane Amjadi ist aus dem Iran nach Deutschland gekommen und lernt nun die Sprache, damit sie anschließend eine Ausbildung machen kann, um dann etwa als Friseurin zu arbeiten.

Hinter der Gruppe düst Nematullah Quraishis Tochter Fatima, fast zwei Jahre alt, auf einem kleinen, blauen Plastikauto durch den Raum. Quraishi lächelt sie an, dann blickt er wieder zu Iris Guth nach vorn. Weitermachen für die Ziele, die die Menschen hier – Lernende und Ehrenamtliche – im Sprachcafé zusammenbringen. ◼