Bewegen

Radball

Die Jugend

in Balance

Im südniedersächsischen Bilshausen hält sich wacker eine ganz besondere Randsportart: Bei den Radballern vom RV Möve geht es hart zur Sache. Das liegt auch an einem amerikanischen Mops.

Die Geschichte ist viel zu schön, um sie nicht gleich zu Beginn zu erzählen. Irgendwann am Ende des 19. Jahrhunderts fuhr der Kunstradfahrer Nick Kaufmann mit seinem Hochrad durch Rochester, einer Stadt im Nordwesten des US-Bundesstaates New York. Plötzlich lief direkt vor ihm ein Hund auf die Straße, der Legende nach handelte es sich um einen Mops. Geistesgegenwärtig zog Kaufmann seinen Lenker hoch und versetzte dem Tier einen sanften Schubser mit dem Vorderrad. Aktion geglückt, Hund gerettet. Und eine Idee geboren.

Fast 140 Jahre nach dieser waghalsigen Tat steht Franz Adler in einer Sporthalle in Bilshausen und lächelt sanft über diese Anekdote, die er natürlich schon oft gehört hat. Adler, Jahrgang 1967, kurze, graue Haare, strenge, aber freundliche Augen, Trainingsanzug, gehört zu denen, die die Tradition weiterführen, die einst an der Westküste der USA ihren Anfang nahm. Denn Kaufmann nahm den Beinahezusammenstoß mit einem Hund zum Anlass, Radball ins Leben zu rufen.

Nach der Jahrhundertwende gründeten sich auch in Deutschland die ersten Radballvereine. 1921 kam der Sport nach Bilshausen, einem zwischen Göttingen und dem Harz gelegenen Dorf in Niedersachsen. Und noch einmal sechzig Jahre später saß Franz Adler das erste Mal auf einem Radballrad. Der Beginn einer großen Zuneigung, die bis heute anhält.

Franz Adler und seine Leidenschaft für den Radballsport:

An diesem Morgen im August 2022 zeigt sich in der Sporthalle von Bilshausen, welche Früchte diese Zuneigung getragen hat. Franz Adler ist einer dieser stillen Helden, die sich so sehr mit Herz und Seele für ihren Sport verschrieben haben, dass Herz und Seele in jedem Winkel der Halle zu spüren sind. Heute findet hier ein Trainingslager statt, mit Schwitzen in der Halle, Spaghetti bolognese in der Mittagspause und Spanferkelessen am Abend auf dem Zeltplatz.

Es sind nur Jungen und Männer, die sich auf den Rädern mit den markanten Sätteln und Lenkern über den Hallenboden bewegen. Adler sagt: „Der Sport ist sehr hart. Die Mädchen und Frauen sind eher beim Kunstradfahren oder beim Radpolo zu finden.“ Dafür ist zwischen sieben und 27 Jahren alles an Altersklassen dabei. 17 aktive Spieler sind bei RV Möve aktuell unterwegs, knapp 140 Mitglieder hat der Verein. Die besten sind für die Kader der Nationalmannschaft nominiert, ein Team hat nur denkbar knapp den Aufstieg in die zweite Bundesliga verpasst.

Enthusiast: Unter Trainer Franz Adler haben es Radballer aus Bilshausen bis in den Kader der Nationalmannschaft geschafft.

Noch nie gespielt und trotzdem im Verein

Das klingt groß, doch Radball gehört in Deutschland klar zu den Randsportarten, die nur existieren, weil es Menschen wie die Radballfreunde aus Bilshausen gibt. Nicht nur die, die auf dem Rad sitzen und den knapp 600 Gramm schweren Ball auf bis zu neunzig Stundenkilometer beschleunigen können. Sondern auch jene, die im Vorstand arbeiten, die noch nie in ihrem Leben Radball gespielt haben und deren Söhne von Trainer Franz Adler höchstpersönlich bei einer Radball-Werbeaktion in der Schule geködert wurden. Oder die Vereinsmitglieder, die immer mit anpacken, wenn Hilfe benötigt wird, und von denen viele natürlich längst ihre Kinder beim RV untergebracht haben.

„Bei uns erziehen die Großen die Kleinen. Radball ist wie eine große Familie.“

Die Atmosphäre beim Trainingslager in Bilshausen ist irgendwo zwischen Fußball, Handball, Ausflug mit dem Kreissportbund und Fitnessstudio. Sympathisch, sportlich, ländlich. Radball beeindruckt durch seine Attraktivität und filigrane Eleganz – um so ein Rad halbwegs korrekt zu bewegen, braucht es viel Zeit und Geduld, um sich schlangenartig um seine Gegner zu drehen, jahrelange Disziplin. Und genauso begeistert der Sport durch seine Intensität. Die breiten Schultern und die dicke Hornhaut an den Händen kommen nicht von ungefähr. Jeder harte Zweikampf endet hier gefühlt in einem Fahrradunfall. Blaue Flecke gehören zum Radball dazu. Gespielt wird in der Regel entweder zwei gegen zwei (Zweier-Radball) auf einem elf mal vierzehn Meter großen Spielfeld oder gar fünf gegen fünf (Fünfer-Radball) auf der Größe eines Handballfelds.

Trainer Franz Adler bittet seine Jungs zu einem Trainingsspiel. Die Oberligaspieler Lukas Stephan, Thies Heinemann, Leon Schreier und Linus Heinemann. Die U‑13-Youngster Lenny Jünemann und Frederik Freiberg. Das U‑17-Vizemeister-Duo Leif Seifert und Simon Stephan. Einer nach dem anderen vollführt seine Künste auf dem Rad. Die starre Übersetzung der Trittbewegungen auf das Hinterrad ermöglicht das Rückwärtsfahren und das Stehen. Der Lenker, ein 25 bis 30 Zentimeter schmales, senkrecht stehendes U, hat um 45 Grad schräg nach vorn versetzte obere Schenkelhälften – im Sitzen hält man das U unter dem Knick, im Stehen darüber.

Eleganz und Härte: Das filigrane Kreisen um den Ball mündet in harte Zweikämpfe und schnelle Schüsse.

Jeder passt auf jeden auf

Es kracht und knallt und quietscht. Zwischendurch ruft Adler ein paar Motivationen und Ansagen durch die Halle. Und es ist wirklich erstaunlich, wie schnell einen diese auf den ersten Blick doch etwas obskure Sportart in ihren Bann zieht mit all ihrer Technik, Taktik, dem Mut und Einsatzwillen. Was den Sport aber so besonders macht, ist der alles miteinander verbindende unsichtbare Generationenvertrag, den die Beteiligten offenbar ganz selbstverständlich unterzeichnet haben. „Bei uns erziehen die Großen die Kleinen“, sagt Franz Adler, der selbst nur noch ganz selten auf dem Rad sitzt und außerdem als Schiedsrichter unterwegs ist. „Radball ist wie eine große Familie.“ Und tatsächlich koexistieren und harmonieren Jung und Alt ganz natürlich in der Bilshäuser Sporthalle, passt einer auf den anderen auf.

Radball ist auch ein sehr technischer Sport. Die Räder kosten je nach Hersteller 1500 bis 2800 Euro. In der Werkstatt hängen Schlauchreifen, verdickt ausgeführte Sattelstützen, Lenkergriffholme, günstig sieht das alles nicht aus. Umso wichtiger für den RV Möve, dass der Verein seit 2014 von der Lotto-Sport-Stiftung unterstützt wird. 13.500 Euro sind seitdem durch verschiedene Projekte in die Nachwuchsarbeit der Möven geflossen.

Gute Jugendarbeit: Franz Adler beim Trainingslager. Seine Ursprünge hat der Sport übrigens nicht in Sporthallen, sondern in Tanzsälen.

Vielleicht rührt diese besondere Fähigkeit zur Gemeinschaft der Radballer auch daher, dass der Sport seine Anfänge in den Tanzsälen der Städte und Dörfer hatte. Erst in den Sechziger- bis Achtzigerjahren wurden in Deutschland flächendeckend Sporthallen gebaut, vorher fanden Tischtennis oder eben Radball dort statt, wo am Abend getanzt und getrunken wurde. So wie in der Gaststätte Zum Löwen, ein paar Autominuten von der Halle entfernt. Heute Abend findet hier ein Fest statt. Zwei Meter von der Theke entfernt zeigt Franz Adler auf den Holzboden: die Markierungen der Radballfelder, zuletzt vor vielen Jahrzehnten im Einsatz, sind noch gut zu sehen.

Auch Adler kann sich an die langen Tage im Saal erinnern. Gemütlich war es. Aber er ist schon sehr froh, seine Jungs in einer richtigen Halle zu trainieren. In ein paar Jahren will er seine Tätigkeit als Mann für alles beim RV Möve Bilshausen beenden. Oder zumindest einschränken. Mögliche Nachfolger hat er schon in Stellung gebracht. Das klingt nach Abschied. Aber wenn man seine Frau mit diesen Plänen ihres Mannes konfrontiert, rollt die wissend mit den Augen. Wie soll der Adler ohne seine Möven auskommen?

Eine Sportart, die ihren Ursprung einem unvorsichtigen Hund zu verdanken hat, hält sich in Bilshausen 140 Jahre nach dem ersten Radballmatch von Rochester wacker im Schatten von Fußball, Handball und Kinderturnen. Das geht nur, weil die Verantwortlichen viel Zeit und Herzblut opfern. Aber was tut man nicht alles für die Familie? ◼