Die etwas anderen Ferien
auf dem Bauernhof
Auf dem Internationalen Schulbauernhof Hardegsen übernehmen Kinder Verantwortung, lernen, was Tiere und Pflanzen brauchen, wie Lebensmittel produziert werden und Nachhaltigkeit im Alltag aussieht, Zusammenarbeit funktioniert. Ein Besuch.
Der Tag beginnt mit lautem Tuckern. Kurz nach sieben – es ist dunkel in Südniedersachsen – fährt ein Trecker mit riesigem Anhänger vor das Jugendgästehaus in Hardegsen. 25 Kinder zwischen acht und zwölf Jahren flitzen durch den Regen und steigen auf den Planwagen. Der ruckelt und zuckelt auf dem Weg in das ein paar Kilometer entfernte Hevensen. Jetzt sind die letzten Nachwuchslandwirte wach – und bereit für ihr außergewöhnliches Ferienlager.
Der internationale Schulbauernhof wird das ganze Jahr über bewirtschaftet. Es gibt seltene Nutztierarten, darunter besondere Rassen von Rindern, Hühnern, Gänsen oder Ziegen. Die Erzeugnisse, wie Bioeier, kann man hier direkt kaufen. Das nachhaltige Wirtschaften ist untrennbar verbunden mit dem pädagogischen Konzept, denn der Bauernhof ist ein Lernort.
Lernen im Kuhstall
Als Sprachlerncamp ist eine Woche im Herbst 2019 überschrieben. Klassenzimmer, Vokabeln, Logopädie – all das gibt es hier nicht. „Lernen beim Tun“, umschreibt Gründer Axel Unger das Konzept. Wie das aussehen kann, zeigt sich etwa im Kuhstall, wo die Biologin Sina Kern mit den Besuchern jeden Tag aufs Neue durchgeht, wie das Melken funktioniert und der Stall ausgemistet wird. Die Kinder lernen hier, sich auszudrücken, die Bedeutung von Wörtern. Sie lernen all das bei Tätigkeiten, die sie spannend finden und die Ergebnisse bringen – sei es ein sauberer Stall oder ein Glas Milch. Betreuerin Sina Kern sieht, wie die Kinder über sich hinauswachsen. „Heute muss ich nur zuschauen“, sagt sie am dritten Tag der Campwoche.
Der internationale Schulbauernhof ist ein alter und zugleich junger Ort, im ruhigen Dörfchen Hevensen, wenige Kilometer von Göttingen entfernt. Das älteste Gebäude des Hofes wurde schon 1750 als Wohnhaus genutzt, die anderen Teile der Vierseithofstelle kamen später dazu.
Heute kommen meist Schulklassen auf den Hof, oder, so wie jetzt in den Herbstferien, bunt zusammengestellte Gruppen verschiedener Grundschulen. Axel Unger hatte Anfang der Nullerjahre die Idee für diesen Lernort. Der Mann, der selbst auf einem Hof aufwuchs, sah hier den perfekten Rahmen, um junge Menschen mit nachhaltigem Leben vertraut zu machen. Im Herbst 2019 hat er die Geschäftsführung an seine langjährige Kollegin Claudia Eicke-Schäfer abgegeben, wird aber weiter mitarbeiten. Ganz lösen, das geht nicht – Unger wohnt ein paar Schritte vom Hof entfernt. „Wenn ein Schwein wegläuft, weiß ich das als Erster“, sagt er und lacht.
Am dritten Tag des Sprachcamps fehlt kein Schwein – dafür sind gleich sieben neue da. Alois, neun Jahre, ist schon das dritte Mal dabei. Vielleicht war es die Erfahrung, mit der er voraussagte, dass das schwangere Schwein am nächsten Tag gebären würde. Alois schiebt mit einer Schubkarre Stroh durch den schmalen Stallgang, wirft es mit drei anderen Kindern in den Stall, während die kleinen Kolleginnen und Kollegen helfen, die Rotlichtlampe anzubringen, damit die Ferkel nicht frösteln.
Ausmisten fürs Selbstvertrauen
Eine Stalltür weiter: Hühner. Der zehnjährige Artur brachte Vorwissen mit. In seiner Nachbarschaft gibt es Bauernhöfe, er kümmert sich zu Hause um drei Hühner. Und hier? „250 Hühner haben gestern 189 Eier gelegt“, ruft Artur, die Kapuze gegen den Regen über den Kopf gezogen. Dann muss er weiter, eine Schubkarre voller Hühnermist hinter den Kuhstall bringen.
Im Kuhstall kümmert sich Matilda, neun Jahre alt, um den Mist der Kühe und überlegt dabei mit zwei anderen Kindern, welche Kuh die schönste ist. Sie werden sich nicht einig, aber als eine braune Kuh der Rasse Angler vom Melken kommt, bilden sie mit ausgebreiteten Armen einen menschlichen Zaun und geleiten die Kuh in ihren Bereich. Plötzlich stoppt die Kuh, hebt den Schwanz, die Kinder wissen: Da kommt was. Dann platschen Fladen auf den Betonboden, sodass manche Kinder Spritzer abbekommen. Sie laufen lachend zu den Waschräumen. Das Bauernhofklassenzimmer hat besondere Momente parat.
Die Kurse sind nicht als Nachhilfe gedacht. Sie sind bewusst offen. Manche Kinder brauchen vielleicht einen Moment länger als andere, um einen Gedanken zu formulieren. Aber was sagt das schon über ihre Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, sich um Tiere und Pflanzen zu kümmern, gemeinsam anzupacken oder ein ausgebüxtes Huhn behutsam wieder ins Gehege zu tragen? Ein solches Camp ist für die Kinder auch eine Gelegenheit, sich neu in einer Gruppe zu positionieren.
Wert von Lebensmitteln schätzen
Wer arbeitet, wird hungrig. Mit viel Liebe und Arbeit hat das Bauernhofteam aus einem ehemaligen Rinderstall die Lehrküche mit Platz zum Essen für Besuchergruppen gemacht. Betreuerin Sina Kern steht vor den Kindern, die an hellen Holztischen sitzen. Sie hat zum Frühstück zwei Botschaften: Die Kinder sollen genau überlegen, wie viel sie vom Buffet auf ihre Teller legen. „Wir produzieren Lebensmittel, wir wollen keine wegschmeißen“, sagt sie. Und dann gibt sie den Kindern noch einen Satz mit, der vielleicht am besten zeigt, worum es geht: „Es ist euer Hof, ihr habt die Verantwortung.“
Nach dem Frühstück, das eine Gruppe von Kindern vorbereitet hat, mit Kakao aus der morgens gemolkenen Milch, starten die Workshops. In der Küche schnippeln die Kinder Möhren, zerkleinern Brokkoli und bereiten Teig für Spätzle vor. Im großen Fachwerkhaus gegenüber beginnt eine andere Gruppe, aus Wolle der hofeigenen Schafe kleine Kürbisse zu filzen. Die dritte Gruppe sammelt im Hofgarten Calendula, Löwenzahn und andere Blumen, um Salbe und Badesalz herzustellen. Sprache wird subtil vermittelt, etwa wenn die Kinder Dosen für die Salbe beschriften.
Für eine enkeltaugliche Zukunft
Claudia Eicke-Schäfer hat in der Erwachsenenbildung gearbeitet, bevor sie vor sieben Jahren auf den Hof nach Hevensen kam. Ein Glücksfall. „Die Kinder kommen neugierig und mit leuchtenden Augen.“ Ihr ist wichtig, den Kindern Zusammenhänge nahezubringen und die eigene Wirksamkeit. Nur mit solcher Bildung sei eine enkeltaugliche Zukunft denkbar, sagt sie. Und dafür braucht es den Mut der Veränderung.
Im Jahr 2016 hat der Hof das erste Feriensprachcamp angeboten, das von der Lotto-Sport-Stiftung finanziert wurde. Zum Herbstcamp 2019 hat die Stiftung 2.500 Euro beigesteuert. Die mehrjährige Förderung ermöglichte dem Hof unter anderem, ein stabiles Netzwerk zwischen den regionalen Grundschulen und den örtlichen Jugendpflegen einzurichten, das ein solches Camp erst möglich macht.
Wie misst man den Erfolg solcher Kurse? Rückmeldungen von Eltern und Lehrkräften, aber besonders von Kindern zeigten, dass sie vieles richtig machen, sagt Axel Unger. Man wolle sich am Hof ja gerade der Bewertungslogik der Schulen entziehen, es gibt weder Tests noch Zeugnisse, es gibt keine Urkunden für Kinder, die etwas besonders toll gemacht haben. Der Erfolg ergibt sich aus den vielen kleinen Beobachtungen, wie Kinder sich plötzlich mehr trauen, wie sie zupacken, lachen und toben, wie sie erklären, was sie machen. „Oft merkt man schon während des Besuchs: Da ist Tolles passiert“, sagt Axel Unger.