Bewegen

Boxen

Feuer in den Fäusten,

aber Menschlichkeit ist der größte Sieg

Beim BSK Hannover-Seelze wird nicht einfach geboxt. Der Klub bildet deutsche Meister und Olympioniken aus und vermittelt dabei vor allem soziale Kompetenz.

Blau-rotes Neonlicht schießt aus großen Scheinwerfern zur Decke. ­Bässe wummern. Die Nebel­maschine legt Schleierschwaden um Sportler und Publikum. Es riecht nach Reifen, Schweiß, Bier, Hackfleisch und Parfum. Das Nummerngirl präsentiert der johlenden Menge eine schwarze Zwei. Langsam richtet sich Magomed Schachidov in der Ring­ecke auf, schlägt seine Handschuhe gegeneinander und schreitet auf seinen Kontrahenten zu.

Die Glocke tönt, die Kämpfer umtänzeln einander mit erhobenen Fäusten. Weder Schachidov im blauen Dress des BSK Hannover-Seelze noch sein rot gekleideter Kontrahent von ­Hertha BSC wollen etwas anbieten. Die Duellanten fixieren einander erst mit starrem Blick und verbergen dann das Gesicht hinter ihren Handschuhen. Schon die erste Unaufmerksamkeit und der erste Überraschungsangriff können den Kampf entscheiden.

Über 700 Zuschauer sitzen eng gedrängt. Schweiß tropft auf den Ringboden, bei Schachidovs Gegner dazu Blut. Er hat einen Cut. Die Nase blutet. Sein Team behandelt die aufgesprungene Haut in ­jeder Kampfpause – um Abbruch und ­technischen K. o. zu verhindern.

Schachidov wartet mit hypnotischem Blick auf Lücken in der Deckung des angeschlagenen Gegners. Und er schlägt gnadenlos zu, wenn der Zeitpunkt günstig ist. Am Ende der dritten Runde reißt der Ringrichter Schachidovs Arm in die Höhe. Sieg nach Punkten. Das Heimpublikum feiert seinen Helden im letzten Bundesligakampf der Saison. Nun wird aus dem harten Fighter Schachidov wieder der sanfte, beinahe schüchterne Sportstudent Magomed.

Boxen bringt mein Leben auf die Bahn

24 Jahre alt ist der in Tschetschenien geborene Ausnahmeboxer. In seiner Gewichtsklasse bis 67 Kilogramm ist er deutscher Meister 2017. Er hat 140 Kämpfe absolviert, die meisten gewonnen. „Boxen hat mein Leben auf die richtige Bahn gebracht, mich Disziplin und Durchhaltevermögen gelehrt“, sagt er. Sein Ziel sind die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Sein Traum ist die Goldmedaille. Dafür trainiert der Sportsoldat dreimal täglich.

Ambitionierte Boxer wie Schachidov, der als Achtjähriger mit seinen Eltern und drei Geschwistern vor dem Krieg in seinem Heimatland nach Deutschland geflohen ist, gibt es viele im BSK Hannover-Seelze. Gefördert wird der Verein von der Lotto-­Sport-­Stiftung, seit 2013 mit insgesamt mehr als 146.000 Euro. Allein die weiten Fahrten des Bundesligateams, aber auch die Anreise zu Turnieren im Nachwuchsbereich wären sonst nicht möglich.

Der BSK Hannover-Seelze ist einer der bestorganisierten und erfolgreichsten Klubs in Deutschland. „Hier wird Wert auf Gemeinschaft gelegt“, sagt Olympiahoffnung Schachidov, der als Jugendlicher von der Schule flog. „In Seelze sind wir eine Familie. Wir halten zusammen. Und wir respektieren unsere Gegner, weil wir mit ihnen den Traum vom Siegen teilen.“

Psychische Stärke ist der physischen ebenbürtig

Dass Boxsport brutal, gar anarchisch sei, kann nur behaupten, wer noch nie einen Kampf gesehen hat. Taktieren und Einigeln sind wichtiger als schiere Kraft. Psychische Stärke ist der physischen mindestens ebenbürtig. Die respektvollen Umarmungen zwischen Seelzer und Berliner Sportlern und Betreuern bezeugen ­eindrücklich, dass das Boxen eine Schule fürs ­Leben ist. Menschliches Miteinander ist für Arthur Mattheis, den Trainer des Bundesligaklubs BSK, die ­wichtigste Lektion.

Er legt Wert auf Disziplin und Sportsgeist. Dass sein Verein auf diese Weise große Erfolge feiert, quittiert der Diplom-­Sport­lehrer mit einem feinen Lächeln. „Wer es nur auf den K. o. des Gegners anlegt, hat die schwächste Taktik“, sagt der Pädagoge und Vereinsgründer. „Unser Ausbildungsziel sind Universalboxer. Die sind geduldig, setzen den Gegner unter Druck und bearbeiten ihn permanent.“ Und dann hebt der listige Brillenträger, der in Kirgisistan als Sohn deutscher Eltern geboren wurde, seine Fäuste und zeigt, wie er sich das vorstellt: „Du musst den Gegner in der Ringecke stellen, damit er nicht abhauen kann.“

Dass dieser Mann 57 Jahre alt ist – kaum zu glauben. Er gewann ungeschlagen Meistertitel, in Kirgisistan und später in der Bundesrepublik. Kampferfahrung hilft dem Trainer, der im Hauptberuf Sozialarbeiter ist: „Ich weiß, wie es ist, in den Ring zu steigen. Da hat jeder Angst, weil es nur einen Sieger geben kann.“

Ein Boxer hat sich unter Kontrolle

Mattheis unterstützt seine Schützlinge auch nach dem Training, etwa bei der Arbeits- oder Wohnungs­suche. Am Ende, sagt er, geht es nicht allein um sportlichen Erfolg: „Wenn sie hier rausgehen und ein vernünftiges Leben leben, wenn sie Menschlichkeit gelernt haben, dann ist das der größte Sieg.“ Das kann bedeuten, das Abitur zu machen oder Konflikte ohne Aggression zu lösen. Boxer, sagt ­Mattheis, gingen Problemen und Stress eher aus dem Weg: „Ein guter Boxer wird niemals seine Fäuste auf der Straße einsetzen. Er hat sich und die anderen unter Kontrolle.“

Alle Gäste, die an diesem Abend in das zur Boxarena umgebaute Auto­haus pilgern, gehen durch ein von Cheerleadern gebildetes Spalier. Es ist ein Event mit Musik, Glitzerkonfetti, Prosecco und Cocktails. Aber bevor der Bundesligakampf in allen Gewichtsklassen ausgefochten wird, sitzen die Seelzer in ihrem Aufenthaltsraum, einem schnöden Büro, und essen Pasta mit Hackfleischsoße.

Für Timury Jamshid, der 2015 aus ­Afghanistan nach Deutschland floh, ein herrlicher Moment. Der 21-Jährige musste noch am Kampftag zwei Kilo abnehmen, um für seine Gewichtsklasse zugelassen zu werden. Das hieß: Nichts essen, nichts trinken – und dick eingepackt laufen gehen. Die Anstrengung hat gefruchtet, die Kilos sind gepurzelt. Der boxende Glaserlehrling wird von seinen Teamkameraden gefeiert, als er nach dem Wiegen endlich essen darf.

„Seelze kann man heute Abend nicht besiegen“, brüllt Arthur Mattheis in die Runde, „denn ihr habt Feuer in den Fäusten!“ Jeder Kampf wird besprochen, die Gegner stehen erst kurz vorher fest. Ist der andere Rechtsausleger, mit ungewöhnlichem Kampfstil, ähnlich selten wie ein Linkshänder? Besonders groß, klein? Klammert er, setzt er auf Körpertreffer? Auf ­alles muss der Boxer sich einstellen. Am Ende stehen alle im Kreis, Mattheis brüllt: „Seid ihr stark?“ „Ja!“, tönt es infernalisch laut aus der Runde zurück.

Ich würde ohne diesen Sport nie Abitur machen

Demhat Bayhan sitzt noch oben, während unten die ersten Kämpfe laufen. Ein Betreuer massiert ihm die Oberschenkel. Kurz vor dem Kampf sind die Seelzer Boxer nie allein, denn wenn sie grübeln, erschlaffen und verkrampfen die Muskeln, anstatt auf den Punkt angespannt zu sein. „In den Ring zu gehen bedeutet Mut“, sagt der 20-jährige Hannoveraner und tritt an diesem Abend seinen zwölften Kampf an. Er ist ein eloquenter Typ. „Boxen hat mich von allem Schlechten ferngehalten“, sagt der in der ­Türkei geborene Kurde. „Ich würde ohne ­diesen Sport nie Abitur machen und mich nie so intensiv um meine Geschwister kümmern. Der Sport macht mich als Person so stabil, dass ich einfach in allem mein Bestes geben will.“

Im Ring stehe man zwar allein, sagt er, aber: „Es sind zwanzig Leute in meinem Rücken, weil wir die ganze Vorbereitung, das tägliche Training als Team machen. Wenn wir uns treffen, teilen wir Schweiß, Blut und Schmerz. Das Brüderliche an diesem Sport fasziniert mich immer wieder neu.“