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Theater

Respekt!

„Das Boot ist voll!“ erzählt die berührende Geschichte des Eisdielenbesitzers Vito Fiorino, der vor der Küste Lampedusas zum Lebensretter wird. Ein Einpersonenschauspiel, das Tausende, besonders junge Besucher bewegt. Das von Respekt und Miteinander handelt. Wir begleiten Schülerinnen und Schüler zu einer Aufführung.

Da steht er also und fegt ­seine Eisdiele auf Lampedusa. Er erzählt, wie man lebt, wenn man Dutzende gerettet und Hunderte sterben gesehen hat. „Das Boot ist voll!“ bringt Leben und Gedanken von Vito Fiorino, Eisdielenbesitzer auf der kleinen Insel südlich von Italien, die zum Synonym für Flucht und europäisches Versagen im Mittelmeer geworden ist, auf die Bühne.

Eine halbe Stunde vor Beginn sind die meisten schon da, Berufsschülerinnen und Berufsschüler der Alice-Salomon-Schule, die etwa zu zahntechnischen Fachangestellten ausgebildet werden. Viele stehen draußen vor dem Theater in der List. Manche rauchen, andere blicken in die Sonne an diesem Mittwochmittag. Mit dem Theaterstück endet für alle der Schultag, die Stimmung ist gut. In manchen Klassen war das Stück kurz Thema im Unterricht, manche Lehrer haben den Inhalt bewusst im Unklaren gelassen. „Ein Stück über Rassismus, oder?“, sagt eine Schülerin, als sie beschreiben soll, was sie erwartet.

Wer trägt die Schuld daran, dass so viele starben?

Autor Antonio Umberto Riccò ließ die Katastrophe vor Lampedusa nicht mehr los, nachdem er von ihr gehört hatte. „Das Boot ist voll!“ beruht auf einer wahren Begebenheit. „Für mich geht es um Authentizität“, sagt er. Am 3. Oktober 2013 ­gerät ein Schiff mit 545 Menschen an Bord kurz vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa in Seenot und kentert. Der Eisdielenbesitzer Vito Fiorino gehört mit einigen Freunden zu den Ersthelfern. Sie waren zum Fischen mit Fiorinos Boot „Gamar“ aufs Meer gefahren. 47 Menschen können sie retten, 132 Menschen überleben durch weitere Helfer, von den 545 Menschen an Bord ertrinken 366. Bis heute gibt es Prozesse um die Frage, wer Schuld daran trägt, dass nicht mehr Leben gerettet wurden. „La barca è piena“, das Boot ist voll, ist in Italien und anderswo nicht nur ein geflügeltes Wort dafür, dass man keine Fremden mehr aufnehmen möchte. Die Küstenwache drängte die Crewmitglieder der „Gamar“ zur Umkehr in den Hafen. Sie konnten nicht mehr helfen, das Boot war voll – mit den 47 Geretteten.

Der Deutschitaliener Riccò, eigentlich Lehrer von Beruf, sammelte alles, was er an Zeitungsartikeln kriegen konnte. Er entwickelte daraus die szenische Lesung „Ein Morgen vor Lampedusa“, die an vielen Schulen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern vorgetragen wurde. Die Lotto-Sport-Stiftung hat sie 2017 mit dem Integrationspreis ausgezeichnet.

Als Willi Schlüter von dem Projekt hörte, war er sofort begeistert. Zusammen mit Riccò entstand die Idee zu einem Einpersonenstück mit Vito ­Fiorino als Hauptperson – gespielt von Schlüter. „Das Boot ist voll!“ erhielt eine Förderung der Lotto-Sport-­Stiftung über 12.000 Euro.

Der Schauspieler verschmilzt mit der Geschichte

Willi Schlüter spielt seit 45 Jahren ­Theater, er hat einiges erlebt. Aber „Das Boot ist voll!“ beschäftigt ihn mehr als andere Arbeiten. „Wenn mir auf der Bühne Tränen kommen, sind die nicht rausgepresst, sondern echt“, sagt er. Und er erzählt über Vito, der längst ein Freund geworden ist. Geschichten auch aus der Nacht der Rettung und der Nacht des Todes für so viele Menschen. Es sind Geschichten dabei, die so unvorstellbar grausam sind, dass er sie nicht auf der Bühne erzählt, auch nicht in den Diskussionen danach mit dem Publikum. „Vito ist traumatisiert, natürlich“, sagt Schlüter. Im Oktober, zum Jahrestag der Katastrophe, hat Willi Schlüter seinen Freund Vito Fiorino auf Lampedusa besucht. Sie sind um die Insel mit ihren weißen Stränden und dem so klaren Wasser, dass man den tiefen Grund erkennen kann, herumgefahren. Die Dinge, die Vito in diesem klaren Wasser am 3. Oktober 2013 gesehen hat, die sind für Willi Schlüter so nah, als habe er sie fast selbst erlebt.


Die Aufführung bewegt die Besucher

Etwas über eine Stunde dauert die Aufführung. Man merkt vielen Besuchern an, dass sie ihnen sehr naheging. Einige sind kurz rausgegangen, mit Tränen in den Augen, so berührt waren sie. Zum Beispiel Buna Aydin. Die 26-Jährige stammt aus der Türkei, hat in Istanbul selbst zwei Jahre Theater gespielt. „Es ist ein Appell an die Menschlichkeit – wir brauchen so etwas dringend“, sagt sie. Ihre 21-jährige Mitschülerin Jennifer Cabrera ist ebenfalls bewegt. „Ich habe mich verletzlich gefühlt“, sagt sie Minuten nach dem Stück. Ein bisschen habe sie dann zugemacht, versucht, nicht alles an sich heranzulassen. Ihre Familie stammt aus Italien, sie hat viel gesehen und wenig Hoffnung, dass sich die Situation dort dauerhaft verbessern wird. Auch die 26-jährige Janine Benitez Oviedo hat eine besondere Verbindung zum Mittelmeer. Sie ist an der spanischen Küste aufgewachsen. Flüchtlinge sind dort seit Langem ein Thema, die Küsten Afrikas sind nah. „Jeder Mensch hat seine Vorurteile“, sagt sie. Wichtig sei, dass man Respekt habe.

Wiebke Flotho ist als eine der Lehrerinnen mit ins Theater gekommen. Auch sie ist sehr bewegt und wird den Besuch mit ihrer Klasse ­angehender Ergotherapeuten nachbereiten. Sie hofft, dass er gerade bei den jungen Menschen Verständnis schafft für die, die neu in unsere Gesellschaft kommen.

Das Stück will keine Aufklärung mit dem Holzhammer

Um Schule, um Botschaften mit dem Holzhammer, darum soll es im ­Theater nicht gehen. „Wir machen jetzt keine Unterrichtsstunde“, hatte Schlüter deshalb auch gesagt, als er nach dem Schlussapplaus noch einmal auf die Bühne kam. Er bedankte sich für den Respekt und das Zuhören, beantwortete ein paar Fragen, dann war Schluss. Das schönste Kompliment für Willi Schlüter ist, wenn viele Besucher das Heft mitnehmen. Fünfzig Cent kostet die Broschüre, in der so viel steht über Vito Fiorino. „Man muss sich das vorstellen: Es gibt Schüler, die geben freiwillig zwei oder sogar fünf Euro“, sagt Schlüter.

Der Schauspieler freut sich, wenn sich junge Menschen mit der Geschichte befassen und merken, dass sie ihnen näher ist, als sie denken. So geht es sicher den Mitschülern von Dina ­Nichirvan. Er ist mit 14 Jahren aus dem Irak nach Deutschland geflohen. Mit 63 Menschen saß er auf einem Boot, das von der Türkei nach Griechenland aufbrach. 63 Menschen auf einem neun Meter langen Boot. Sie kommen alle heile an der Küste an, aber Dina erlebt Traumatisches. „Ich habe ­Kinder sterben gesehen“, sagt der junge Mann, der bei seiner Flucht selbst noch ein Kind war. Seine Familie lebt noch im Irak, sein Vater hatte ihn damals auf den Weg geschickt. Seine Familie wollte er nachholen. Anfang Mai ist er 18 Jahre alt geworden, jetzt geht das nicht mehr. Er versucht, nach vorn zu schauen. Dina war ­wichtig, dieses Stück zu sehen, trotz all des Schmerzes, den es hervorruft.