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Reportage 360° – Brücken bauen

Rundum

erfolgreich

in die Zukunft

Das Projekt „360° – Brücken bauen“ bringt Schüler:innen aus Berufseinstiegsklassen der Berufsbildendenden Schulen, Azubis und das Team der Brückenbauer:innen zusammen. Mit 360°-Videotechnik entwickeln sie an einem Vormittag kleine Filme über herausfordernde soziale Situationen und mögliche Lösungen im Ausbildungsalltag junger Menschen. Ein Besuch am Set.

Ein Samstagvormittag im Industriegebiet des Langenhagener Stadtteils Godshorn. Es wird ordentlich ausprobiert und jede Menge Material produziert in den Räumen des Pharmaunternehmens Repha GmbH. Doch statt biologischer Arzneimittel werden diesmal Videos produziert, statt um die Gesundheit geht es um das Selbstbewusstsein, die Sozialkompetenz und die Zukunft von jungen Menschen.

Im Zentrum stehen die Brücken­bauer:innen. Junge nach Deutschland Geflüchtete, die viele Hürden übersprungen und ihre Ausbildung geschafft haben. Seit 2017 unterstützen sie als Role Models jugendliche Geflüchtete und Migrant:innen auf ihrem Weg in die duale Ausbildung. Ihr aktuelles Vorhaben ist das „360° – Brücken bauen“-Projekt, das von der Beschäftigungsförderung der Region Hannover als Hauptförderer, der Niedersächsischen Lotto-Sport-Stiftung als Co-Förderer und auch der Repha GmbH unterstützt wird. Mit einer 360°-Kamera entwickeln Schüler:innen, Azubis und die ehrenamtlich tätigen Brückenbauer:innen kleine Filme über typische Ausbildungssituationen. Mit der Arbeit an den Szenen lernen die jungen Menschen, worauf es im Zwischenmenschlichen manchmal ankommt und welche Sozialkompetenzen in der betrieblichen Ausbildung wichtig sind.

Seriena Zerisenay Teclemicael erzählt, warum es sich lohnt, beim „360° – Brücken bauen“-Projekt mitzumachen

Von Hilfesuchenden zu Role Models: die Brückenbauer:innen

Ausgedacht haben sich das Projekt die Macher vom Institut für Pädagogische Professionalität (IPP). „Wir wollen mit den Menschen sprechen statt über sie“, sagt der Initiator Bernd Schlierf. Seit 2017 besuchte er viele Unterkünfte für Geflüchtete, um ihnen beim Ankommen in Deutschland zu helfen. 2020 kam Rainer Krüger als zweiter Projektverantwortliche dazu. Sie stellten fest: Da gibt es ganz viele Menschen, die kreativ sind, die Lust haben, etwas zu machen. Mit einigen der Menschen, denen sie auf dem Weg in eine Ausbildung halfen, blieben sie in Kontakt – der Kern der Brückenbauer:innen. Viele Geflüchtete hatten keine Zeugnisse dabei. Und falls doch, wurden diese selten anerkannt. „Sie haben schnell gemerkt: Wir machen noch mal eine Ausbildung, dann sind wir sicher in diesem Arbeitsmarkt, dann sind wir Fachkräfte“, so beschreibt es Bernd Schlierf. Die Erfahrungen aus ihren Ausbildungen und auch dem heutigen Alltag geben die Brückenbauer:innen nun an junge Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen weiter.

Zwei Filme entstehen an diesem Samstag. Im Obergeschoss, dem neuen Labor der Repha, bekommt der Schauspieler-Azubi eine E-Mail vom Chef. Er soll Kartons sortieren. „Hm, sortieren?“, fragt er sich – will aber auch nicht weiter nachfragen. Die fünf Szenen des Films „Unklarheiten? Frag doch mal einfach!“ zeigen, wie viel schwerer die Arbeit sein kann, wenn man sich nicht traut, nach klaren Arbeitsaufträgen zu fragen.

Ein starkes Team: die Initiatoren des Projekts, Rainer Krüger und Bernd Schlierf

Amjad Qutob und Seriena Zerisenay Teclemicael prüfen die umfangreiche Checkliste vor dem Dreh.

Wie wird Medizin hergestellt? Das Projekt bietet den Schüler:innen auch immer Einblicke in ein Unternehmen.

Im Erdgeschoss am zweiten Filmset ist der Auftrag klarer: Ein Auszubildender soll eine Weihnachtskarte gestalten. Michelle Just, Auszubildende im Marketing beim Gastgeber Repha, spielt „Frau Meier“, die Schüler Khairulla (17) und Sebastian (18) sind in die Rolle von zwei Auszubildenden geschlüpft. „Fertig ist nicht gleich fertig!“ wird ihr Film später heißen, es geht um Eigeninitiative.

Regie führt die Brückenbauerin Seriena Zerisenay Teclemicael. Sie stammt aus Eritrea, hat in Deutschland eine Ausbildung zur Pflegeassistentin absolviert und will in diesem Bereich weiterarbeiten. Seriena ruft „Stopp“, die Szene wird noch einmal wiederholt. „Sprich ruhig lauter, du hast bei ihr nichts zu befürchten“, sagt sie zu Khairulla, der den Auszubildenden spielt. Sie schaut auf das iPad in ihrer Hand, auf dem sie das Livebild der 360°-Kamera sehen kann. Alles sieht gut aus. „Go“, ruft sie dann, die Szene kann wiederholt werden. Michelle Just ist das Thema des Films wichtig: „Ich glaube, dass man etwas nur wirklich gut machen kann, wenn man es mit voller Kraft angeht, nachfragt, sich hinterfragt und so lange dabeibleibt, bis man selbst zufrieden ist“, sagt die Auszubildende. Mit einer für die meisten völlig neuen Technik wird in Rekordzeit ein Film produziert, ohne Drehbuch. Alles entsteht an einem Vormittag. Doch am Ende sind alle zufrieden.

Die Lehrerin merkt: Diese Jugendlichen brauchen Vorbilder

Die Schüler:innen sind mit der Lehrerin Katrin Bajraktari von der BBS Metalltechnik – Elektrotechnik in Hannover hier. Sie gehörte früh zum Verein Unterstützerkreis Flüchtlingsunterkünfte und merkte, dass viele der damals überwiegend jungen Männer ihr nicht so wirklich zuhören konnten oder wollten, wenn sie das deutsche Berufsschulsystem erklärte. Also machte sie Infoveranstaltungen, bei denen Muttersprachler:innen mit mehr Erfahrung in Deutschland die Rolle übernahmen. Auf diesem Weg kam sie auch mit Bernd Schlierf und Rainer Krüger zusammen, regelmäßig kommt sie mit Schüler:innen zu den Drehs. „Es ist einfach fantastisch zu sehen, wie sich die Schüler:innen hier in so kurzer Zeit entwickeln“, sagt sie.

Und tatsächlich, die beiden jungen Schüler werden immer selbstbewusster, auch wenn Brückenbauerin Seriena sie manche Szene wiederholen lässt. Sie diskutieren zwischen den Szenen, was sie noch besser machen können. „Sprich lauter!“, ruft Sebastian seinem Kollegen zu und lacht. Denn „Frau Meier“ hatte ihn gar nicht verstanden.

Haben offensichtlich Spaß: Michelle Just (Azubi) und Chaima Elyamani (Team Brückenbauer:innen) proben eine Szene.

Die jungen Leute hier in wenigen Stunden wachsen zu sehen, das erfüllt auch die Organisatoren mit Freude. „Unser Thema ist Sozialkompetenz“, sagen Bernd Schlierf und Rainer Krüger. Das könne man eben schlecht im Frontalunterricht beibringen, dafür müsse man ins Handeln kommen. Die Brückenbauer:innen machen diese Arbeit am Wochenende ehrenamtlich. Es gibt eine kleine Aufwandsentschädigung, die Zertifikate, die sie für ihre ehrenamtliche Arbeit vom IPP erhalten, können beim Einbürgerungsverfahren helfen. Bei vielen ist es einfach die Lust am Ausprobieren und die Freude, anderen zu helfen. So wie bei Amjad Qutob. Der junge Mann stammt aus Nablus in Palästina und hat eine Ausbildung bei enercity in Hannover gemacht, wo er heute arbeitet. „Ich kenne mich ganz gut mit Computern aus“, sagt er und lacht. Offensichtlich eine Untertreibung, denn ihm vertrauen hier alle in Technikfragen, er sichert und schneidet das Material. Das Wissen dazu? Hat er sich selbst beigebracht.

„Unser Thema ist Sozialkompetenz.“

Auch die Azubis der unterstützenden Unternehmen können an diesem Tag viel lernen. Ihre Aufgabe ist es, die beiden Drehs zu koordinieren. Neben Michelle Just sind noch Nico Grafentin, E-Commerce-Kaufmann bei Landgraf in Langenhagen, und Matthis Wieland, Azubi bei Böhm Güterverkehr in Godshorn, dabei. Der junge Mann nimmt die Rolle selbstverständlich an, erklärt den Schüler:innen mit fester Stimme die Aufgaben.

Ein Schritt auf dem Weg ins Berufsleben

Khairulla ist noch nicht am Ziel. Er will Elektriker werden. Seinen Vater hatte er sieben Jahre nicht gesehen, weil der als Helfer für westliche Truppen in Lebensgefahr war. Vor eineinhalb Jahren konnte Khairulla endlich auch nach Deutschland kommen, beherrscht die Sprache schon erstaunlich gut. Er will alles dafür tun, hier, in Sicherheit, seinen Weg zu gehen.◼