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Reportage Solwodi

Du

meine Seele,

singe

Die Westafrikanerin Gloria* hat Schreckliches erlebt in ihrem Heimatland und auf ihrer Flucht nach Europa. Die Frauenrechtsorganisation Solwodi hilft ihr, sicheren Grund unter die Füße zu bekommen – und Musik zu machen.

*Der Name wurde auf Wunsch geändert.

Sie hält die Augen fest geschlossen. Aber die schwarze Frau mit dem grün-roten, weit ausladenden Kleid und den aufwendig geflochtenen langen Haaren ist hellwach. „I love your word“, singt sie andächtig im Stil eines Gospelsongs, ihre Lippen beben, die rechte Hand bewegt sie wie die einer Dirigentin im Takt der Musik auf und ab. Ein Textblatt nutzt sie nicht, die Worte scheinen tief aus ihrem Innern zu sprudeln.

Es ist ein Herbsttag in Helmstedt, knapp fünfzig Menschen sitzen in der St.-Christophorus-Kirche auf hellen Holzbänken und lauschen Gloria, der jungen Musikerin aus einem westafrikanischen Land. Eigentlich will die 31-Jährige kein Konzert geben – immer wieder fordert sie die Gäst:innen des besonderen Gottesdiensts dazu auf, mitzusingen. Aber kaum jemand folgt der Einladung. Die meisten sind viel zu gebannt von ihrem Gesang und lauschen lieber andächtig. Die Frau, die predigt und betet, obwohl sie eigentlich nur singt, füllt den modernen Waschbeton-Kirchraum mühelos mit ihrer Stimme. Sie entlockt vielen der Zuhörenden ein verklärtes Lächeln. Und sie zieht ausnahmslos alle Blicke auf sich.

Luca Lehmann kennt längst die geradezu magnetische Wirkung der jungen Frau. Die 58-jährige Diplom-Pädagogin – kurze graue Haare, Nickelbrille – kümmert sich seit einem knappen Jahr um Gloria, die auf verschlungenen Wegen nach Europa geflüchtet ist. Dass sie inzwischen regelmäßig Auftritte wie den in Helmstedt absolviert, freut Luca Lehmann sehr. Denn was genau Gloria aus ihrem Heimatland geführt hat, was sie auf dem Weg bis nach Deutschland erlebt hat – darüber möchte die junge Frau nicht reden, sagt Luca Lehmann: „Die Traumata sitzen tief.“

► Gloria erzählt, was ihr das Singen bedeutet und welchen Traum sie verfolgt

Tag gegen Menschenhandel

An jenem 18. Oktober ist die Helmstedter Kirche genau der richtige Ort für die beiden Frauen. Denn am europaweiten Tag gegen den Menschenhandel findet hier nicht nur ein Gottesdienst statt. Es hängen im Kirchraum auch großformatige Bilder und Texttafeln aus dem Leben von kenianischen Frauen. Gesichter voller Härte, voller Verzweiflung. Dazu sind bedrückende Lebensgeschichten zu lesen: Schicksalsschläge, Zwangs­prostitution, schwere Misshandlungen, Armut. Aber ebenso ist von Kleinkrediten und Geschäftsideen die Rede.

Solwodi hilft Frauen, die Gewalt erlebt haben

Immer wieder geht es um die von der deutschen Ordensschwester Lea Ackermann 1985 gegründete Hilfsorganisation Solwodi. Deren Name macht ihre Mission direkt deutlich: Solidarity with women in distress, Solidarität mit Frauen in Not. Sie erhalten ganz praktische Hilfe – seit nunmehr 25 Jahren auch in Braunschweig. 93 Frauen, die Gewalt und Prostitution erleben mussten, lernten allein 2024, wieder sichere Schritte zu gehen. Hauptamtliche betreuen die Betroffenen aus vielen Nationen, dazu engagieren sich viele Freiwillige in Helmstedt und Braunschweig: Sie helfen bei Ärzt:innenbesuchen, machen Ausflüge mit den Klientinnen, stricken und kochen mit ihnen. Solwodi finanziert sich vielfältig: aus Fördergeldern des Landes, der Fernsehlotterie-Stiftung, der Stadt Braunschweig und aus Spenden. Hinzu kommen ­Fördergelder der Niedersächsischen Lotto-Sport-Stiftung. So kann sie etwa Fahrtkosten für die Sängerin Gloria bezahlen.

„Ich fühle mich so stolz, vor Menschen zu singen“, sagt sie. „Dann sehe ich so viel Freude auf ihren Gesichtern. Einige weinen dann sogar. Das motiviert mich unglaublich.“ Gloria ist sehr dankbar dafür, dass ihre seelischen Verletzungen heilen und sie an möglichst vielen Orten ihre Musik machen kann. „Wir begleiten sie im Asylverfahren“, sagt Luca Lehmann. Und sie verhelfen ihr zu psychologischer Betreuung – genau wie vielen anderen traumatisierten Frauen. Luca Lehmann hört oft Details aus deren Leben, die ihr den Atem stocken lassen: „Vielleicht muss ich deshalb auch immer weinen, wenn ich Gloria singen höre: Weil ich weiß, dass sie jetzt in Sicherheit ist.“

Fotoausstellung von Solwodi: Frauen in Kenia, die nun dank Ausbildung und Mikrokrediten eine neue berufliche Perspektive haben.

Routinierte gemeinsame Abstimmung: Pastorin Birgit Rengel und Luca Lehmann von Solwodi arbeiten oft zusammen.

„Ich bin dann ganz bei mir“, sagt Gloria über das Singen.

Ungeschehen können die Haupt- und die Ehrenamtlichen von Solwodi nichts machen, aber zumindest ihren Beitrag leisten, damit die Frauen wieder sicheren Grund unter ihren Füßen haben: „Ich sehe Fortschritte, ich sehe Entwicklungen“, sagt Luca Lehmann. „Dafür mache ich das.“

Ganz sicher macht sie es auch, damit Gloria singen kann: im Auto, im Zug. Eigentlich singt die Frau mit der durchdringenden Stimme den ganzen Tag. „Ich bin dann ganz bei mir“, sagt sie. „Das nimmt mir eine Menge Druck. Und es hilft mir, meine Traumata zu verarbeiten. Ich glaube: Wenn ich singe, kann ich alles schaffen. Es klingt ein bisschen kitschig, aber Musik ernährt meine Seele.“

Arbeitskreis aus Ehrenamtlichen kämpft gegen Sex als Ware

Im Gemeindesaal der Christophorus-Gemeinde sitzen am Abend des Gottesdiensts eine Handvoll Frauen an zusammengeschobenen Tischen bei Keksen und Tee. Sie haben unterschiedliche Berufe, manche sind im Ruhestand, die Kirche ist nicht für alle eine Heimat. Aber sie alle verbindet der Wunsch, ein Ende zu machen mit Sex als Ware und Frauen als Objekten.

Pastorin Birgit Rengel sitzt mit in dem Arbeitskreis und ist ein bisschen stolz darauf, dass Solwodi in der Christophorus-Gemeinde tief verwurzelt ist. Ein ganzer Kreis von Ehrenamtlichen aus der Gemeinde treffe sich regelmäßig, um Aktionen rund um das Thema Frauenrechte zu organisieren. Ehrenamtliche böten Workshops an Schulen an, sagt sie. Später, in ihrer Predigt, spricht ­Rengel davon, Ängste abzubauen und gemeinsam die Welt zu verändern: „Viele der betroffenen Frauen sind ganz in sich erstarrt, sie brauchen dringend Sicherheit und Schutz.“

„Ich glaube: Wenn ich singe, kann ich alles schaffen. Es klingt ein bisschen kitschig, aber Musik ernährt meine Seele.“

Zwei Kinder in der alten Heimat

Gloria ist nicht nur strahlend und souverän an diesem Abend. Wer sie beobachtet, sieht auch, wie sie in die Leere starrt, nervös auf dem Smartphone tippt. Es ist nicht alles gut, aber manches besser, seit sie 2023 nach Deutschland gekommen ist. Und seitdem sie Helferinnen an ihrer Seite hat. „Es gibt so viele, die verzweifelt sind“, sagt sie über ihr Heimatland. „Mein Traum ist es, eines Tages den Kindern dort zu helfen. So viele Menschen brauchen Hilfe, Bildung, Jobs. Es gibt viele Waisen, es herrscht Bürgerkrieg. Viele Kinder gehen nicht in die Schule.“ Und dann, ganz nebenbei, der Satz: „Ich habe zwei Kinder, die dort leben.“

Meistens lauschen alle andächtig Glorias schöner Stimme. Doch hier reißt sie alle mit ihrem Gesang mit.

Sollte sie das Asylverfahren erfolgreich durchlaufen, könnte Gloria zunächst in Deutschland bleiben und sich um ihre berufliche Zukunft kümmern. Und ihre Kinder zumindest aus der Ferne versorgen. Sie sagt, als sie zu Solwodi kam, sei es ihr so schlimm gegangen, dass sie kaum habe atmen können: „Die helfen Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, sie tun eine ganze Menge. Vor allem Luca hat mich unglaublich ermutigt und mir dabei geholfen, wieder auf die Beine zu kommen.“ Wenn Luca Lehmann das hören würde, müsste sie direkt wieder weinen.◼